Zorniges Erdengeträum
Das Land Mykene fällt in die Vergangenheit
Zeit entsetzt sich nicht selbst. Doch als Flüsse barsten und sich von den Schüben der Meergewalten entfesselt lebensvernichtende Wellenkämme aufbäumten, als sich von tausenden Blitzlanzen Feuerzungen auf Landschaften setzten, zog Entsetzen in ihr Gesicht. Der Boden gebar unüberwindliche Gräben, die mit ihrem rußigen Gedränge Trauerränder in die Felsen brannten; feurige innere Erdenkräfte schleuderten aus öffnenden Schlünden glühende flüssige Erdströme heraus, die die Palastmauern überwanden. Zeit verschloss ihre Augen. Mit heftigem Schluchzen kehrte sie den Menschen ihren Rücken zu. Was sind Erzähltöne oder Liedgefunkel, die mitfühlend die Jahrzehnte begleiten und von ihnen berichten, wenn der Donnerdurchflossene seine Bestrafungen auf die Erde schleudert?
Neugierig richtete Zeus seine Augen auf die Erde. Er hatte sich auf den Höhen von Ida bei seiner goldbethronten Hera zurückgezogen. Schulterzuckend hatte er ihre Ankunft beobachtet. Sie ruhte entspannt in einem mit Flügeln bewehrten Gefährt, das ihm nicht bekannte Gleit- und Flugeigenschaften aufwies. Ihre Hand lag unaufgeregt auf ihrem Schoß. Zeus ahnte, dass sie ihre Beziehung zu ihrem Sohn Hephaistos in den letzten Monaten verstärkt hatte. Das bedrückte ihn zunächst nicht. Doch ahnte er die ungeheure Kraft und Kreativität dieses hinkenden Wesens. Nicht Vater eines Kindes von Hera zu sein und ihr dennoch keine Untreue vorwerfen zu können, das beschäftigte ihn in Nächten, die er allein auf seiner Burg verbrachte. Ihm war bekannt, über welche außergewöhnlichen handwerklichen Fertigkeiten der Schmied des Olymps verfügte. Sobald er ihm begegnete, überraschte ihn dessen widerspenstiges Auftreten. Unterordnen würde sich dieses Wesen ihm nie. Doch mit seinen kreativen Gestaltungskräften konnte er andere widerspenstige Götter in eine Position bringen, die zu erschüttern ihm nicht leichtfiel. Er hoffte dem vorzubeugen, indem er ihm schlichte Sklavenarbeiten auftrug. Durch ein Verächtlichmachen gedachte er ihn herabzusetzen und sein rohes Gemüt zu dämpfen. Solange er die Götterzwölf aus der nie versiegenden Kanne mit Wein versorgte, so Zeus Wägungen, würde der durch seinen niedrigen Status Beschwerte von aufrührerischen Planungen abgelenkt.
In wenigen Nebensätzen erläuterte Hera, wie Hephaistos ihr Gefährt mit einem nicht sichtbaren Wesen ausgestattet hatte. Es vermochte, eigenständig zu einem gewünschten Ziel zu lenken. Dass diese Fertigkeiten ihm, dem Gottvater, nicht zustanden, dämpfte seine Liebeslust. Noch nie hatte Zeus seine gewaltverstrickenden Anordnungen in diesem Übermaß auf die Menschen gelenkt. Er vernahm das Stöhnen und Ächzen der Landschaft und schüttelte den Kopf über die heillos verwirrten Entsetzensschreie und schrillen Gebete der Menschen. Seine Absicht, die Menschen allein durch Wassermassen auszulöschen, hatte er aufgegeben. Beeindruckt stellte er sein erstes grausames Rasen ein.
Auf dem Olymp versammelten sich seine unsterblichen Mitreisenden und warteten auf ihn. Sie hielten die Augen abgewandt, als der Rauch der Opfergaben in den himmlischen Palast kroch. Der Möglichkeit, die Göttter damit günstig zu stimmen und auf das Schmeicheln und Ehren mit gefälligen Gesten zu reagieren, standen alle ablehnend gegenüber. Sich in einem kraftvollen nicht überwindbaren Bündnis mit Kronos’ Sohn zu wissen, stimmte sie menschenfeindlich. Viele Jahrzehnte lag es zurück, dass sie gemeinsam ohne Streit und Gezänk mit dem Gewaltbesessenen den Tag genossen. Zermürbt von dem anhaltenden Streit untereinander und mit Zeus begriffen sie, wie notwendig und zwingend eine Neuorientierung ihres Zusammenlebens war. Gewiss fühlten sie sich jeden Tag erneut gut unterhalten und belustigt, wenn sie den grenzenlosen Ehrgeiz der Mykener mit frivolen Anmerkungen begleiteten. Dass der blitzsammelnde Zeus in seiner Brust Zorn und Wirren aufhäufte, hatte sie in ihrer Langeweile bestärkt. Sein Drohen, das Menschengeschlecht auszulöschen, weckte in ihnen Widerstand und fand bei niemandem Widerhall. Erst als sie sich einigten, mit der Geburt eines neuen Menschengeschlechtes einen Fortgang auf der Erde sicherzustellen, füllten sich ihre Augen wieder mit Begeisterung. Ihnen lag Zeus Angebot vor, die ersten Schritte des Neuanfanges aktiv mit zu begleiten. Nachdem Zeus die Erde mit unvorstellbarer Zerstörungsmacht überraschte, warteten sie aufgeregt und neugierig darauf, dass sie zu dem Neubeginn mit seinen ersten Geburtswehen auf die Erde eilten.
Zuneigende zustimmende Gesten und aufgeregtes Geraune empfing Zeus. Mit ihren ersten Sätzen drängten sie ihn, die gemeinsame Reise zu planen. Jeder von ihnen wog in seiner Brust das Ansinnen, einen eigenen Menschenstamm auszuwählen und ihn zu betreuen. Insgeheim erwärmte manchen Gott die Absicht, den jeweiligen Stamm bis an die zulässigen Grenzen der Regelwerke der Götter mit den eigenen Gaben ausstatten. Stillschweigend gingen sie davon aus, dass trotz der erlittenen Katastrophen die Menschen weiter Kriege organisierten und Gewalt ausübten. Irgendwann, das ließ der Ehrgeiz der Mykener erwarten, führten Eitelkeit und Niedertracht zu der weiteren Gewaltherrschaft von wenigen. Jeder Gott erhoffte sich für diesen Fall eine gute Ausgangsposition. Ausgestattet mit den Gaben des sie betreuenden Gottes konnte sich bei dem ausgewählten Stamm eine Dominanz entwickelten, die später in die folgenden Kriege Vorteile einbrachte. Wenn sich die Gemeinsamkeiten mit Zeus wieder verlebten, konnten sie ihren Stamm, falls notwendig, gegen ihn aufbringen. Mit Vorfreude dachten sie daran, wie nach und nach der Donnergewaltige den Einfluss auf den Menschen verlor.
Mit müdem Blick und zusammengefallenen Schultern nahm Zeus ihr Drängen entgegen. Seiner Übermacht vertrauend schob er die kecken dunklen Absichten seiner Mitgötter zur Seite. Seine linke Hand hob sich, es verstummte das Stimmengewirr. Als zu kurzsichtig empfand er ihre Absicht. Er wusste, die Menschen waren noch nicht bereit für einen vorbehaltlosen Neuanfang. Der Schmerz über das Sterben der Verwandten und Freunde hatte sie in ein Klagetal geführt, das sie erst nach Monaten verlassen konnten. Doch ihre Erinnerungen an die güldene Zeit der Mykener, zu denen sie selbst zählten, versorgten sie jeden Tag mit neuer Zuversicht, nach einem Neuaufbau ihrer Paläste an die alte Zeit anzuknüpfen. Beim Verlassen des Ida hatte er Sterbliche beobachtet, die bereits die Trümmer der Paläste sichteten und ordneten. Sie hatten häufig Niederlagen durchgestanden, ohne ihr langfristiges Ziel aus den Augen zu verlieren. Zur Zeit, das wusste er, waren die Menschen überfordert, die Absprache der Götter zu verstehen, um das Chaos als Chance zu begreifen und losgelöst von den alten Werten und ihrer Kultur einen Neuanfang zu wagen. Zeiten konnten nicht gegeneinander laufen. Zeus hegte große Zweifel, dass die Menschen sich entsprechend seiner Absichten kurzfristig als lernfähig erwiesen. Ihr Klammern an die Glanzzeit und ihr Träumen würde ihn in wenigen Jahrzehnten dazu drängen, seine ursprüngliche Absicht wieder aufzugreifen, sie insgesamt gewaltsam von der Erde zu nehmen. Ihm war auf dem Flug zum Olymp klar geworden, erst wenn mehrere Zerstörungswellen, in der gleichen Intensität wie die erste, die Erde radikal veränderten, konnte eine Ausgangssituation geschaffen werden, die die Menschen zwang, sich von der alten Welt zu trennen. Nur wenn wenige Menschen die Gewaltschübe des Himmelsvaters überstanden und sie zudem vereinzelt in den Landschaften siedelten, konnte er einen Neuanfang einleiten. Zusätzlich musste er ihnen die Schrift wegnehmen, die Handwerker und Künstler in den Hades entführen und nach dem Zerstören der Häuser, Paläste und der kulturellen Güter die Köpfe der Menschen von den Erinnerungen an frühere Annehmlichkeiten befreien. Nachdem er der Götterrunde seine Absichten erklärt hatte, verließ er die schweigende Schar. Er setzte seine Arbeit fort. Zum Abschluss der Zerstörungsaktionen hängte er eine Dunkelheit über die Landschaft, die die Erde für einen Monat verschloss. Als Zeus erneut seine Blicke von dem Ida auf die Erde richtete, stellten ihn seine Wahrnehmungen zufrieden. Das Weinen und Schreien der Menschen war verstummt. Auch die Landschaften hatten sich seinem Willen gebeugt und nach einem Verneigen vor ihm das Ächzen eingestellt und Stille angeboten.